Welche Meinung ist die richtige? Eine Geschichte über Ansichten.

Welche Meinung ist die richtige?

Ein König rief einmal drei blindgeborene Menschen aus seinem Land zu sich, um ihnen einen Elefanten vorzustellen. Er führte sie vor das Tier und bat sie, ihm doch mitzuteilen, um welches Wesen es sich da handelte. Die Blinden wussten nichts über jenes für sie fremde Tier und betasteten es mit ihren Händen. Nach einer Weile sprach der König: „Nun, meine lieben Gäste, habt Ihr erkannt, um welches Tier es hier geht?“

Alle riefen wie aus einem Munde: „Ja, wir wissen nun, was ein Elefant ist!“ Und der erste Blinde, der das große Ohr des Elefanten abtastete, fuhr fort und sprach: „Der Elefant ist wie eine große Schaufel.“ Gleich darauf hörte man die Stimme des zweiten Blinden, der den Rüssel berührt hatte: „Nein, der Elefant ist wie eine Schlange.“ Ja und schließlich rief der dritte, der das Schwanzende des Tieres in seinen Händen hielt: „Auf gar keinen Fall, der Elefant ist wie ein Besen“.

So ging das eine ganze Weile. Jeder hatte die Meinung, den Elefanten in seiner Art erfasst zu haben. Mittlerweile gerieten sie in einen solchen Streit über das Aussehen des Elefanten, dass es immer bedrohlicher wurde. Jeder wollte recht haben und traute nur seinen eigenen Erfahrungen. Das Ganze jedoch, wie ein Elefant in Wahrheit von seiner Gestalt beschaffen ist, vermochten sie nicht zusammen zu bringen. Hätten sie nur einmal die Plätze getauscht, sie hätten sich gewiss ein umfassenderes und wahres Bild des Elefanten machen können und auch verstanden, was der andere meinte.

(Nach einer indischen Lehrgeschichte, bearbeitet von Karlheinz Schudt)

„Ich finde einfach niemanden, der so häufig recht hat, wie ich!“

Selbstverständlich ist es immer eine Ansichtsache, wie man Dinge im Leben betrachtet, insbesonders, wenn es sich um Glaubensfragen handelt. Aber das ist schließlich die Freiheit des Menschen und so verhält es sich in Bezug auf jede Weltanschauung, Religion oder Lebenseinstellung. Gefährlich wird es nur, wenn eine dieser Ansichten zur allgemein gültigen Meinung erkoren wird und andere Menschen aufgrund ihrer Ansichten oder Erfahrungen ausgeschlossen oder bekämpft werden.

Ähnlich zeigt es sich bei der Interpretation, Deutung, Analyse oder Betrachtung von Märchen. Auch hier ist es immer eine Frage des Standpunktes, der eigenen Meinung und Lebenseinstellung, was man darin sehen möchte und was sie schließlich tatsächlich offenbaren. Nur wer genügend Bereitschaft und Offenheit mitbringt, seinen Blickwinkel zu ändern, wird weitaus mehr vom „Ganzen“ oder vom Geheimnis des Märchens (und des Lebens) erfahren, als jemand, der mit aller Macht und Vehemenz seinen Standpunkt oder seine Meinung verteidigt.

Rotkäppchen, nur eine harmlose Kindergeschichte?

So sagte einmal eine Teilnehmerin während einer Märchenfortbildung für Pädagoginnen:

„Ich dachte immer, dass es sich beim Märchen vom Rotkäppchen um eine pädagogische Moral-Geschichte mit erhobenem Zeigefinger handelt. Aber jetzt wird mir so langsam klar, dass es gar nicht darum geht, sondern um den ureigenen Weg, die Lebensaufgabe und das Lebensziel des Menschen in Gestalt von Rotkäppchen mit all den vielen äußeren Verlockungen und Ablenkungen, die es von seinem Weg abbringen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir auch die Erkenntnis in einem ganz anderen Licht, die Rotkäppchen am vermeintlichen Ende des Märchens offenbart: ‚Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat.'“

Wenn auch Sie eine besondere und freilassende Methode kennenlernen möchten, mit der Sie nicht nur die offensichtlichen Seiten von Märchenbildern und -prozessen (oder die des Lebens) erkunden, sondern auch und besonders jene Offenbarungen, die weitaus tiefer (oder höher) liegen, dann besuchen Sie doch eines unserer Seminare, z. B. die Ausbildung zum(r) Märchen- und GeschichtenerzählerIn. Sie werden staunen, wie vielfältig, variationsreich und wahr die Märchen in Bezug auf das Leben eigentlich sind.

© Karlheinz Schudt
Märchenerzähler, Autor, Seminarleiter

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