Der König und die Märchenerzählerin

Der König und die Märchenerzählerin

In einem von Platon (antiker griechischer Philosoph) überlieferten Dialog zwischen Sokrates (Griechischer Philosoph, Lehrer von Platon) und Phaidros (Gesprächsparter von Sokrates) erzählt dieser einen fiktiven Mythos über die Entstehung der Schrift. Dort wird geschildert, wie der ägyptische Gott Theut dem König Thamus neben Mathematik und Sternenkunde auch die Schrift als Geschenk brachte mit der Begründung, dass letztere die Ägypter klüger mache und ihr Gedächtnis verbessere.

Das Gedächtnis trainieren, nicht in der Erinnerung „versteinern“

König Thamus jedoch lehnte ab und sprach: „Diese Erfindung wird in den Seelen der Menschen, die sie erlernen, Vergesslichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben. Im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von außen erinnern durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch sich selbst. Also hast du ein Mittel nicht für das Gedächtnis gefunden, sondern eines für die Erinnerung. Was das Wissen angeht, so verschaffst du den Menschen nur den Schein davon, nicht aber wirkliches, (lebendiges) Wissen.“

Auch Märchen wurden in vergangenen Zeiten nicht aufgeschrieben, sondern in nahezu allen Kulturen mündlich weitergegeben bzw. frei erzählt. Selbst wenn in unserem Kulturkreis die Brüder Grimm eine wahrhaft großartige Aufgabe vollbracht hatten, Volksmärchen zu sammeln, sie niederzuschreiben und sie in einer „veredelten“ Sprachform nahezu allen Bevölkerungsschichten verständlich zu erhalten, hatten sie inhaltlich doch einiges darin geändert. (Beispiel: Dornröschen aus der Urfassung von 1810 und Dornröschen 1857 von den Brüdern Grimm bearbeitet)

Märchenbücher sind Gräber von Märchen

1988 war ich als Redakteur und Herausgeber der Märchenzeitschrift in Buchenbach/Schwarzwald unterwegs und hatte die seltene Ehre, den damals 80jährigen Märchenerzähler- und forscher Rudolf Geiger († 1999) in seinem Wohnhaus zu interviewen. Auf eine meiner Fragen „Muss nicht der Mensch das Märchen zum Leben erwecken? Es entsteht doch nichts aus sich selbst heraus?“ antwortete er:

„Richtig! Wenn ich ein Märchenbuch nehme und schlage das auf, was habe ich dann? Dasselbe, wie wenn ich Ihnen ein Notenheft hinlege und sage, klingt Ihnen das nicht wunderbar? Das Märchenbuch ist eine Partitur und nur der Mensch kann es wirklich lesen, der es versteht, Partituren zu lesen. Dem klingt sie unmittelbar. Und erst wenn die Musik durch die Hände und das Instrument wieder neu entdeckt und reproduziert wird, also aus dem Menschen heraus aufersteht, dann ist der Geburtsakt des Märchens wieder neu vollzogen. Märchenbücher sind eigentlich Gräber. Gräber von Märchen. Und das gedruckte Märchen ist tot.“

Er meinte damit nichts anderes, als dass es immer dringlicher wird, das Märchen (und nicht nur das) durch das frei erzählte, innerlich erlebte Wort wieder zum Leben zu erwecken.

(Sie finden u. a. das gesamte Interview in der Märchenzeitschrift: „Rudolf Geiger – Ein Leben mit Märchen“, erhältlich im Paket mit allen 23 noch erhältlichen Märchenzeitschriften zum Sonderpreis von 32,- Euro inkl. Versand)

Mit Mut und Vertrauen aus dem Inneren schöpfen

Nun leben wir ja im 21. Jahrhundert und man müsste meinen, dass wir alle klüger geworden sind und aus den uralten, ewigjungen Weisheiten unserer Vorfahren auf der ganzen Welt gelernt haben. Dass dies nicht so ist, wissen wir aus dem Lauf der Geschichte sehr gut. Selbst der weise König Salomon soll einmal gesagt haben, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt.

Sicher, das äußere Erscheinungsbild hat sich geändert. Wir wähnen uns besonders klug und einfallsreich, da wir u. a. den Mond bereist haben, Funk und Fernsehen erfunden haben und zuletzt sogar die digitale Welt mit Internet, sozialen Medien und vielem mehr. Sind wir dadurch glücklicher und erfüllter geworden? Oder wiederholt sich das „Spiel“ mit der Schrift von Neuem?

Diesmal aber in Form von toten, künstlichen Bildern (in Film und Fernsehen), einseitigen Berichten und erstarrten Meinungen (in vielen Medien), die eine wirkliche Debattenkultur nicht mehr möglich machen, da sie die unterschiedlichen Meinungen der einzelnen Menschen nicht auf Augenhöhe hinterfragen. Andersdenkende Personen oder Gruppen werden vielfach denuziert, ja sogar verunglimpft und nicht selten hasserfüllt als öffentliches Feindbild angeprangert.

Ist es nicht wirklich an der Zeit – vielleicht sogar mit Hilfe der weisheitsvollen Märchen – uns selbst wieder zum Leben zu erwecken, für eine vielseitige Welt mit allen Aspekten zu öffnen, das lebendige Wissen aus unserem Inneren zu schöpfen und es anderen durch das frei erzählt Wort zu offenbaren, so, wie es Platon schon erkannt hatte?

Vielleicht kann Sie ja die Geschichte vom „König und der Märchenerzählerin“ im Märchen-Podcast ein wenig dazu inspirieren, die im Grunde das Wesen der gesamten Märchen-ErzählerIn-Ausbildung des Märchenhaft leben e.V. charakterisiert:

Der Märchen-Podcast

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© 2018 „Der König und die Märchenerzählerin“: Karlheinz Schudt (Inspiriert durch ein altes Lehrgeschichtenmotiv)
© 2023 Musik, betrachtet und gesprochen von Karlheinz Schudt,
Märchenerzähler, Autor, Seminarleiter

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Der König und die Märchenerzählerin

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