Rumpelstilzchen – Führen Angeberei und Gier zum Ziel?

Rumpelstilzchen

© Bild: aboutpixel.de-Joerg Kleinschmidt

Liebes Märchenteam,

ich habe mit meinem Sohn das Märchen Rumpelstilzchen durchgenommen und mich gefragt, was wohl die Moral dieser Geschichte ist. Bedeutet dies: „Je mehr Gier und Angeberei, desto mehr Erfolg und Reichtum?“ Die Tochter des Müllers wurde ja nur Königin, da der Müller mit seiner Angeberei vor dem König erfolgreich prahlte. Und auch der König hatte mit seiner Gier Erfolg, da ihm die Müllerstochter bzw. ihr Helferlein Rumpelstilzchen das Stroh zu Gold spann. Zur Belohnung wurde es als Folge von Gier und Angeberei bekämpft. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mir dabei auf die Sprünge helfen könntet.

Hallo und herzlichen Dank für Ihre Anfrage,

aber Sie haben recht, zunächst entsteht beim ersten Eindruck der Gedanke, dass der König ein gieriger Nimmersatt ist. Allerdings habe ich in meiner jahrzehntelangen Erzähler-Tätigkeit vor Kindern nie erlebt, dass Kinder dem König oder gar dem Müller viel Beachtung geschenkt haben.

Um die geht es gar nicht so sehr in diesem Märchen, sondern viel mehr um den Prozess, den die Müllerstochter in Verbindung mit dem Männchen durchmacht. Selbst wenn wir den König etwas näher betrachten, dann fällt neben seiner maßlosen Gier gleich auf, dass er als mächtiges Oberhaupt eines Staates nicht einmal fähig war und ist, das zu vollbringen, wozu eine einfache und junge Müllerstochter fähig war, nämlich mithilfe eines übernatürlichen Wesens Stroh zu Gold zu verspinnen.

Im Märchen geht es um seelische Verwandlungsprozesse

Es geht hier, wie in den meisten echten Märchen, um Verwandlungsprozesse, die sich auf einer anderen, „höheren“ Ebene abspielen und die das Märchen mit den Bildern „Stroh“ und „Gold“ bzw. „Müllerstochter“ und „Königin“ beschreibt. Nur dieses einfache Mädchen war fähig, das zu leisten, wovon Müller und König nur zu träumen wagten.

So heißt es ja auch im Märchen von Rumpelstilzchen:

… „Der König freute sich über die Maßen bei dem Anblick, war aber noch immer nicht Goldes satt, sondern ließ die Müllerstochter in eine noch größere Kammer voll Stroh bringen und sprach: ‚Die musst du noch in dieser Nacht verspinnen; wenn dir das gelingt, sollst du meine Gemahlin werden‘. ‚Denn‘, dachte er, ‚eine reichere Frau kannst du auf der Welt nicht haben.‘ …

Mit anderen Worten: „Was die kann, kann kein gieriger, angeberischer und eitler Mensch“!

Der gierige König und ihr Vater, der angeberische Müller, sind im Grunde zwei hilflose und ohnmächtige Gestalten, die, ohne es bewusst zu wollen, mit ihrer Angeberei und Gier das äußere Entwicklungs-Umfeld für die Müllerstochter vorbereiten und zur rechten Zeit den Kontakt mit diesem seltsamen Männchen einleiten. Später übrigens spielt dieses verwandelte Gold überhaupt keine Rolle mehr!

Eines der Hauptmotive dieses Märchens ist ja, dass das Männchen in seiner wahren Gestalt erkannt wird: „Heißt Du vielleicht Rumpelstilzchen?“. Sie sollten einmal bei einer Erzählrunde dabei sein und darauf achten, wie da die Kinder aus ihrer Spannung beim Zuhören befreit und erlöst sind, wenn dieser Satz kommt!

Im Leben ist es nicht anders. Eine Lösung kann erst dann gefunden oder eingeleitet werden, wenn die wahre Ursache des Problems oder Missstandes erkannt ist und wahrhaftig beim Namen genannt wird. Und die liegt meist tiefer, als der Verstand zu „schauen“ bereit ist.

Und da es sich ja bei den Märchen hauptsächlich um Seelenprozesse handelt, die in verschiedenen Bildern mit verschiedenen Figuren und Situationen umschrieben werden, kann es sich auch bei Rumpelstilzchen um nichts anderes handeln.

Kinder sehen das viel natürlicher und einfacher. Wir Erwachsenen tun uns da oftmals sehr schwer mit unserem Verstand, da wir die Lösung einer Sache immer erst im Äußeren suchen und enttäuscht sind, dass sie dort nur sehr selten zu finden ist.

Erkenne Dich selbst – und Du erkennst die Welt!

Es geht in diesem Märchen also nicht so sehr um den Prozess des Königs, sondern vielmehr um den der Müllerstochter auf dem Weg zur Königin. Übertragen könnte man für dieses Märchen auch sagen: „Erkenne Dich selbst – und Du erkennst die Welt!“

Warum nun die Müllerstochter als spätere Königin mit dem gierigen und mordlustigen König verheiratet bleibt und welche Entwicklungen die beiden in dieser seltsamen Kombination gemeinsam mit ihrem Kind noch durchmachen werden, ist wohl eine andere Geschichte. Aber wie in fast allen Schilderungen ist hier das Märchen nicht zimperlich. Schließlich lebt ja nicht nur die lösungsorientierte „Müllerstochter“ in uns, sondern auch der gierige „König“ oder der angeberische „Müller“.

Nebenbei bemerkt, welche Rolle spielt eigentlich das Kind der Königin in diesem Märchen?

Märchen von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten

Sie werden verstehen, dass es eigentlich eine weitaus längere Zeit bräuchte, um dieses Märchen erlebnisreich und ausführlicher zu erkunden und dass hier eben nur wenige Anregungen gegeben werden können. Aber vielleicht sind sie ja ausreichend, damit Sie selbst sich in eigener Regie noch intensiver mit diesem Märchen beschäftigen und es von mehreren Blickwinkeln aus betrachten.

Selbstverständlich finden Sie in unseren Seminaren und Schulungen geeignete und effiziente Methoden, wie Sie die Märchen von unterschiedlichen Sichtweisen beleuchten und in ihrer Tiefe entdecken und – je nach Interesse – auch frei vor Publikum erzählen können.

© Karlheinz Schudt
Märchenerzähler, Autor, Seminarleiter

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